Vor 1000 Jahren:
Die neu gegründeten, handwerklichen Betriebe in Kleinstädten verleugnen ihre Herkunft nicht: sie organisieren sich ähnlich wie die bäuerlichen Lebensgemeinschaften auf den Höfen des umliegenden Landes. Es geht daher streng hierarchisch zu: Meister Geselle Lehrling.
Alle leben unter einem Dach - unter dem Dach des Meisters. Alle essen aus derselben Schüssel. Alle erleiden ein ähnliches Schicksal, sollten die hergestellten Handwerkserzeugnisse nicht gekauft werden.
Vor 130 Jahren:
Durch Motorisierung und Mechanisierung ist die industrielle Revolution in Europa in Schwung gekommen. Liberalisierung und freie Standortwahl führen zum 14-Stunden-Tag, haben Frauen- und Kinderarbeit zu Niedrigstlöhnen zur Folge. Der Fabriksherr sieht Arbeit als reinen Input-Faktor an.
Ein Ziegelfabrikant rechnet sinngemäß so: zwei Tonnen Lehm, 50 kg Kohle und ein halber Taglöhner bringen eine Tonne gebrannter Ziegeln. Diese Ziegeln lassen sich gut verkaufen - da fließen die Kronen in meine Tasche! Merke: Der Taglöhner wird wie Lehm und Kohle als Input in das industrielle System gesehen. Und nicht als Mensch. Fast schon wie heute - siehe unten - wieder.
Vor 30 Jahren:
Gesetzliche Regelungen und abgegrenzte nationale Märkte führen zu stabilen Unternehmen und stabilen Märkten. In Großunternehmen gibt es hierarchische Stufen ohne Ende. Detaillierte Aufgabenbeschreibungen regeln den Arbeitsplatz. Ausbildung und Erfahrung der Mitarbeiter werden als Hauptaktivposten des Unternehmens angesehen.
Vor 30 Jahren:
Gesetzliche Regelungen und abgegrenzte nationale Märkte führen zu stabilen Unternehmen und stabilen Märkten. In Großunternehmen gibt es hierarchische Stufen ohne Ende. Detaillierte Aufgabenbeschreibungen regeln den Arbeitsplatz. Ausbildung und Erfahrung der Mitarbeiter werden als Hauptaktivposten des Unternehmens angesehen.
Angehörige der Personalabteilungen teilen den Angestellten ihre Rechte mit. Der Umgang untereinander ist respektvoll. Der Portier wird mit 'Sie' angesprochen wie der Generaldirektor. Um 17 Uhr ist Dienstschluss. Das Privatleben bleibt privat.
Heute:
Die Personalabteilung wurde in Human Ressources (HR) umgenannt. HR wurde zu einem Bereich, der den Vorrat an menschlicher Arbeit verwaltet. Arbeit wird wieder als reiner Inputfaktor angesehen. Ein Faktor, welcher billiger zu werden hat. Die Aktionäre wollen schließlich jedes Jahr mehr Geld am Konto sehen. Wie das zustande kommt, ist egal.
HR teilt den unsicher Beschäftigten mit, welche Rechte sie NICHT haben. Menschen sind - beliebig austauschbare - Verfügungsmasse. Du konkurrierst mit dem chinesischen Arbeiter, der gerade die Frühindustrialisierung erleidet. Erfahrung und echte Eigeninitiative gefährden den Job – du denkst zu viel und störst die schnellen, oberflächlichen Abläufe.
Natürlich zeigt sich diese Mentalität eines alles-aus-einer-Sache-Rausholens überall. Auch und besonders in den Erzeugnissen. Eine über das Minimum hinausgehende Produktqualität ist nicht gefragt. Die auf der ganzen Welt verstreuten Kunden werden über den Tisch gezogen und gleich nach dem Verkauf vergessen.
In den Unternehmen werden alle mit dem vertraulichen Du angesprochen. Teilnahme an 'freiwilligen' Parties oder den 'zwanglosen' Treffen nach Dienstschluss wird erwartet, genauso wie die Verfügbarkeit am Wochenende. Blackberry und iPhone haben nachts eingeschaltet zu bleiben.
So wird chronische Überlastung der Beschäftigten zum Dauerzustand. Mit dem voraussehbaren Ende: ausgelutscht und schließlich weggeschmissen zu werden. Der vor 20 Jahren noch respektierte Generaldirektor hatte sich zum gefürchteten und gleichzeitig verachteten Chief Executive Officer gewandelt. Er kassiert Millionenprämien im Quartal, beutet das Unternehmen im Auftrag der Aktionäre aus und verschwindet über Nacht, wenn's gröbere Probleme gibt.
Die Arbeitswelt ist übermächtig, psychologisch doppelbödig und grausam geworden. Denn zum bösen Spiel hat jeder gute Miene zu machen. Und fröhlich zu sein und flexibel. Und mobil, wenn er am Abend den Fußtritt kriegt.
Reinhard Neumeier, Februar 2009
