Syrien / Aleppo: Zitadelle

 

Kinder oder Nutztiere? Viele Chefs behandelten ihre Beschäftigten in den letzten 50 Jahren nach zwei extremen Modellen:
 
1. „Wir als Kinder“ - so werden wir im elterlichen Modell innerhalb der traditionellen, europäischen Vertrauenskultur gesehen:
Als wären die Figuren direkt aus einem Groschenroman der 1960er Jahren gestiegen: Der strenge Patriarch führt einen überschaubaren Betrieb. Er besitzt ein Herz mit harter Schale und weichem Kern (wenigstens zu Weihnachten).  Er kümmert sich darum, dass die Firma Gewinn abwirft. Er handelt auch als Vater für seine 'Kinder'.
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Ein Vater, der weiß, was den Seinen nützt: Zurückstehen des Einzelnen, Disziplin und Zusammenarbeit. Er misstraut dem Boom, vertraut seinem Instinkt und legt Reserven an. In guten Zeiten kommt es vor, dass am Lohnzettel ein etwas höherer Betrag steht, als erwartet. Ein Anruf in der Personalabteilung klärt, dass eine zusätzliche betriebliche Leistung gewährt wurde.
 
Arbeiter und Angestellte erleben ein Wir-Gefühl. Alle stehen loyal zur Firma, wenn die Konjunktur Schluckauf hat. Die Firma feiert nach überstandenen Krisen ihr 75., 90. oder 100. Bestandsjubiläum. Auf der vorletzten Seite des Romans heiratet der kinderlose und verwitwete Patriarch die Chefsekretärin. Wie schön, wie schluchz.
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2. „Wir als Nutztiere“ - so werden wir im Viehhaltungsmodell innerhalb der amerikanischen Misstrauenskultur behandelt:
Der oberste Teufel war vor einem Viertel Jahrhundert Persönlich aus der Hölle gekommen und hatte einigen Erdlingen böse Folterwerkzeuge in Form von Börse, Ratingagenturen, Investmentbanker und Finanzinvestoren in die Hände gedrückt. Unternehmen werden von Finanzinvestoren übernommen. Aktienkurse bestimmen das kurzatmige Vorgehen börsennotierter Unternehmen.
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Amerikanisches Hire und Fire Mentalität (schnelles Anstellen und gleich wieder Kündigen) setzt sich auch in Europa durch. Unsicherheit charakterisiert die Situation der Beschäftigten. Die das lange Zeit gut verdrängen. Die mit Managern im bedeutungslosen You parlieren. Im Gegenzug werden sie Mit-Arbeiter genannt. In guten Zeiten kommt es vor, dass am Gehaltszettel ein deutlich geringerer Betrag steht als erwartet. Die Erfahrenen wissen, dass ein Anruf in der Personalabteilung sinnlos geworden ist.
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Die Vorstände gehorchen den Börsengurus und verkaufen selbst Liegenschaften, auf denen Werkshallen oder Kaufhäuser stehen. Alle Profitcenter müssen pro Jahr eine Rendite von 15% und mehr bringen. Viele Menschen ziehen sich in ihre abgeschlossenen Hinterhöfe zurück. Manche beuten sich aus und verbrennen in 60-Stunden-Wochen.
Burn out? Wer verkohlt und verschlissen ist, muss den Platz räumen. Der neoliberale Zeitgeist macht aus links rechts und aus rechts links: Im berauschenden Taumel und völliger Sinnesverwirrung sieht der Weggeräumte 'seine Schuld' auch ein und wird depressiv.
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3. Wie sich diese Form der Viehhaltung langfristig auswirkt:
Die sich überschätzenden Manager stehen im Zentrum der betrieblichen Zirkusmanege, um ihre Zirkuspferde auf Trab zu halten (das Wort „Manager“ ist etymologisch vom Wort Manege abstammend). Jedoch haben sie keine Ahnung, welche Gefühle in den gespreizt galoppierenden Zu-Arbeitern entstehen. Wir arbeitenden Nutztiere fühlen!
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Auch wenn Gefühle im Büroalltag verborgen bleiben. Die 27-jährigen Berater vergaßen, den „Handtätigen“ (Managern) zu sagen, dass ein  Zusammenhang zwischen Gefühlen und Motivation besteht. Die Jungberater vergaßen, darauf hinzuweisen, wie es in den Hinterköpfen der Beschäftigten ausschauen könnte. Jeder Leser von Groschenromanen weiß, wie wichtig das ist.
Stille Wut verwandelt Mit-Arbeiter in Gegen-Arbeiter, die ihre persönlichen Strategien verfolgen und damit dem Betrieb kaum nützen. Der Sinn des gemeinschaftlichen Tuns wurde ja ausgetrieben.
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Arbeiten Menschen mit Ärger im Bauch, ist das Ergebnis schlecht. Psychologen wissen, je weniger Emotionen  beachtet werden, umso wirksamer werden sie. Gefühle im Betrieb zu zeigen, ist verpönt - ein absolutes No-No. Negative Gefühle zu kontrollieren, verbraucht wiederum Energie.
Das nagt an der Substanz. Da Fern-Arbeiter gleichzeitig Angst um ihren un-sinnstiftenden Job haben, trauen sie weder Chefs noch Kollegen. Sie haben innerlich gekündigt und schweigen, während die napoleongleichen Spitzenmanager Schlachten an der Börse schlagen. Oder befinden sich auf dem Weg eines lähmenden oder zerstörenden Burn out.
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Die Manager nehmen nicht wahr, wie betriebsinterne Frustrationen die Kampfleistung ihres „Heeres“ schmälern. Resultat: Von außen pressen Finanzinvestoren den Betrieb aus, von innen vermindern oberflächliche Führung und schlecht gehaltene Beschäftigte den Unternehmenswert. Die auf Rendite und Misstrauen gebauten Firmen gleichen ausgehöhlten Termitenbauten, die im Sturm innerhalb kürzester Zeit in sich zusammenfallen. Am vorletzten Tag des Bestehens der Firma gehen die Mitglieder des Vorstandes in die vergoldete Frühpension. Wie mies, wie grimm.


Fazit: Die europäischen Vertrauenskultur wandelte sich in amerikanische Misstrauenskultur. Gefühls-Toleranz wurde zur Gefühls-Ignoranz. Mit langfristig verheerenden Ergebnissen - sowohl für die Einzelnen als auch für die Gesellschaft. Die Kinder und Enkelkinder werden es ausbaden.


Reinhard Neumeier, April 2009