KI und Wissenschaftstheorie 1: der Pragmatismus
Wenn Maschinen antworten – und wir trotzdem weiterfragen müssen
Im Herbst 2022 schlug ChatGPT ein wie ein Meteorit in die öffentliche Wahrnehmung. Plötzlich konnten Maschinen auf alles eine Antwort geben: blitzschnell, selbstsicher, sprachlich versiert. Ein erstaunliches Werkzeug.
Aber auch ein Anlass zu fragen: Wie verändert KI unser Verständnis von Wissen? Das über Jahrhunderte durch Vernunft, logische Vorgehensweisen und Experimente angehäufte Wissen wird durch die KI verändert. Wird es aber angereichert oder verwässert?
Zwischen Funktion und Verstehen
Die Reaktionen auf den neuen digitalen 'Partner' reichen von Euphorie bis zur intellektuellen Kapitulation. Viele Nutzer sehen KI pragmatisch: "Hauptsache, es funktioniert." Wenn eine Software plausible Texte schreibt, hilfreiche Tipps liefert und Daten analysiert – warum weiter nachdenken?
Doch diese Haltung greift zu kurz. Sie blendet aus, dass die KI keine Wahrheit kennt, sondern Muster. Sie verarbeitet vorhandene Daten und optimiert auf statistische Wahrscheinlichkeit, nicht auf erkenntnistheoretische Tiefe. Genau hier setzt die Wissenschaftstheorie an. Denn sie fragt: Was gilt als Wissen, und warum?
Die pragmatische Antwort
Eine lohnenswerte Perspektive liefert der philosophische Pragmatismus, wie ihn Charles S. Peirce, William James und John Dewey vor eineinhalb Jahrhunderten formuliert haben. Feste Hintergrundannahmen über die „Natur“ von KI oder der Realität gibt es nicht. Pragmatisten sehen Erkenntnisse als Ergebnis eines fortlaufenden Prozesses an.
Gelernt wird über Trial-and-Error. Statt nach objektiver Wahrheit im absoluten Sinn zu suchen, setzen Pragmatisten auf praktische Bewährung: Wahr ist, was dem Leben und Handeln nützt. Erkenntnis entsteht im Prozess, im Versuch, im Irrtum, in der Korrektur.
Die heftige Kritik an der Nutzenorientierung ist ebenfalls eineinhalb Jahrhunderte alt: Demnach würde der Pragmatist mit dem Verlust der methodischen und analytischen Sorgfalt einfach alles billigen. Was leider häufig in der Praxis zutreffen wird. Entscheidend ist jedoch, dass man nicht das erstbesten Ergebnis nimmt.
Das führt uns zu Peirce’s Bild vom "Seil": Wissen ist nicht ein Faden, der reißt, wenn eine Annahme falsch ist. Wissen ist ein Seil aus vielen Fasern. Auch wenn einzelne Fasern schwach oder brüchig sind, hält das Ganze durch Verflechtung.
Auf die Forschung angewendet: Je mehr Perspektiven, Methoden und Daten wir verknüpfen, desto robuster wird unser Verständnis. Triangulation heißt diese Verknüpfung heute. Das wiederum obliegt dem Menschen.
KI als Werkzeug im Erkenntnisprozess
KI kann dabei ein starkes Werkzeug sein. Aber sie bleibt die Faser, ein kleiner Teil des Seils, nicht das Seil selbst. Ihre Antworten sind Anregungen, keine Endgültigkeiten, sie sind kleine Schritte im Forschungsprozess.
In dieser Hinsicht ist die pragmatische Sicht aktueller denn je. Sie erinnert uns daran, dass Erkenntnis dynamisch ist. Dass Wahrheit nicht gefunden, sondern immer wieder – zwischen Menschen – verhandelt wird. Und dass umfassendes Denken nicht delegierbar ist, auch nicht an scheinbar klügste Maschinen.
6. Mai 2025
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